Vor einigen Tagen hatte ich zum ersten Mal ein Gespräch mit Elias' Mutter, um den ich mir am Anfang eigentlich am meisten Sorgen gemacht habe.
Er war antriebslos, übertrieben frech in Konfliktsituationen und aggressiv sowohl gegen die anderen Kinder als auch gegen Manuel und mich. Ich dachte, ich würde nie mit ihm warm werden. Ich dachte auch, er würde so, wie er sich benahm, keine Freunde finden. Und ich war besorgt, dass er vielleicht nicht Lesen lernen würde, ohne jegliche sichtbare Motivation.
Die Mutter, die zu mir kam, weil sie sich dieselben Sorgen gemacht hatte, erwartete wohl von mir, dass ich genau das bestätigte. Stattdessen konnte ich ihr mit gutem Gefühl sagen, dass meine Beziehung zu Elias immer besser wird, dass er im Innersten ein sehr lieber Bub ist und dass ihn mittlerweile gleich zwei Kinder, Taran und Fanny, als "ihren besten Freund" bezeichnen. Die Buchstaben hat er leider bisher nicht gelernt - in Wirklichkeit bräuchte er Einzelbetreuung, um mithalten zu können - aber wir haben beschlossen, ihm auf dem Gebiet noch ein wenig Zeit zu geben.
Zu groß war unsere Erleichterung darüber, wie sehr er sich sozial gebessert hat! Solche Erkenntnisse machen meinen Beruf zu einem sehr schönen - und zeigen mir, dass Geduld sich eben doch auszahlt.
Es ist einfach wunderschön, die Möglichkeit zu haben, neun Wochen lang auszuschlafen und abzuschalten.
Der Lehrerberuf macht es mir möglich, mich jedes Jahr um diese Zeit wie ein Kind zu fühlen. Vor mir die große Freiheit - scheinbar endlos lang.
Nicht die Ferien für die Lehrer sollten gekürzt , sondern für alle anderen verlängert werden.
Leider ist dieser Gedanke nur ein naiver Wunschtraum, - aber es wäre so schön, wenn auch alle Nichtlehrer in diesen Hochgenuss kommen könnten.
Alleine die Möglichkeit, mit den eigenen Kindern den Sommer stressfrei verbringen zu können, trägt enorm viel zur Familienidylle bei.
Hätten alle so viel Urlaub, würde dies vermutlich eine friedlichere Gesamtatmosphäre bewirken.
Aber ich will realistisch bleiben: Viel eher wird es irgendwann so sein, dass auch Lehrer in den Sommerferien arbeiten müssen.
Und solange das noch nicht so ist, genieße ich jeden einzelnen Ferientag in vollen Zügen und fange ganau jetzt damit an!
Innerhalb des letzten halben Jahres habe ich es nun bereits zum dritten Mal erlebt, dass Lehramtsstudentinnen völlig frustriert und teilweise sogar weinend vor mir sitzen.
Diese jungen Frauen kenne ich alle sehr gut. Jede einzelne ist eine gefestigte Persönlichkeit, von der ich zutiefst überzeugt bin, dass sie eine tolle, kreative und engagierte Lehrerin ist.(beziehungsweise sein wird)
Zwei davon unterrichten schon fix in einer Klasse, müssen ihr Studium jedoch noch abschließen.
Als ich vor vielen Jahren mit meinem Studium fertig wurde, hatte ich zwar das Gefühl, absolut nichts vermittelt bekommen zu haben (und zwar wirklich a b s o l u t n i c h t s), aber ich konnte mit einer gewissen Leichtigkeit in den Beruf einsteigen.
Damit meine ich, dass "Lehrer-Neulinge" damals noch die Möglichkei hatten, ausprobieren zu dürfen, wie es denn nun am besten funktioniert. Die zu dieser Zeit noch tatsächlich geltende "Methodenfreiheit" war für Anfänger genau das Stück Freiheit, das enorm wichtig war, um sich weiter entwickeln zu können.
Heute haben die Studenten -genauso wie damals - das Gefühl, wenig bis nichts vermittelt zu bekommen. Sie ärgern sich über schlechte Stundenpläne, viel zu wenig Praxis und sinnlose Lehrverabstaltungen.
Der große Unterschied ist jedoch, dass sie nicht das Gefühl haben, hineinwachsen zu dürfen. Es wird von Anfang an sehr viel gefordert (jedoch vor allem unnötige schriftliche Abhandlungen), aber absolut nichts geboten, um Sicherheit in diesem Beruf zu bekommen ( vermehrte praktische Übungsmöglichkeiten).
Der sinnlose Druck, den alle Lehrer zurzeit spüren, ist also auch schon bei den Studenten ein Thema.
Schade! Der Lehrermangel wird somit wahrscheinlich noch länger ein Thema sein :-(
Nächste Woche findet endlich unsere Theater-Aufführung statt!
Unsere Nerven (sowohl von Lehrern als auch von Schülern) sind teilweise stark strapaziert, allerdings weiß ich aus Erfahrung, dass das aufgrund der tausend verschiedenen Dinge, die es zu bedenken gibt, völlig normal ist.
Trotz aller Anstrengungen überwiegt die positive Seite der Proben!
Diesmal konnten wir zum Beispiel besonders gut beobachten, wie stark die "schwachen" Schüler davon profitieren.
Die meisten Kinder, die zu uns geschickt werden, hatten in der Ursprungsschule auch beim Lernen große Probleme. Die Disziplinlosigkeit, die sich bei diesen Kindern besonders stark im Sozialverhalten zeigt, stellt natürlich auch beim Lernen ein Hindernis dar.
Beim Theaterspielen entwickelt man leichter einen gewissen Ehrgeiz. Schließlich soll das Stück ja vor Publikum aufgeführt werden.
Die lange Dauer des Theaterprojekts scheint den Kindern auch bewusst zu machen, dass es sich dabei um etwas ganz Besonderes handelt, bei dem sie persönlich einen wichtigen Teil übernehmen.
Mittlerweile haben wir die einzelnen Szenen schon so oft geprobt, dass nur noch an den Feinheiten der Schauspielkunst gefeilt werden muss. Die Textsicherheit ist kein Problem mehr und das wiederum gibt den Kindern ein Gefühl der Sicherheit und Kompetenz.
Außerdem schaut unser Bühnenbild mittlerweile fast schon professionell aus. Die Kinder freuten sich sehr darüber, als sie eines Tages jene Bilder, an denen sie lange gearbeitet hatten, als Bühnenbild präsentiert bekamen. Jedes Einzelbild ist zwar gut gelungen, aber durch die Zusammensetzung aller Einzelbilder zu einem Gesamtkunstwerk entsteht ein noch viel tollerer Eindruck.
Nun hoffen wir also, dass die Aufführung gut gelingt, damit die Kinder für all ihre Mühen (und wir für unsere noch größeren Mühen) belohnt werden.
Die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden ist eine der Schulen, die in Deutschland die besten Ergebnisse beim PiSA-Test erzielt hat.
Gleichzeitig ist sie eine der Schulen, die ohne Noten auskommt, wobei eine jahrelange Entwicklungsphase gebraucht wurde, um alle Lehrer dieser Schule von diesem System zu überzeugen. Denn einst war diese Schule ein Gymnasium wie jedes andere, bis 1986 Enja Riegel ihr Amt als Direktorin antrat und die Schule nach und nach reformierte. Nach vielen Anstrengungen konnte sie damit schließlich großartige Erfolge feiern und aufzeigen, dass das Weglassen der Noten positive Entwicklungen bei Schülern und Lehrern ermöglicht.
Die entscheidende Veränderung ist, dass jeder einzelne Schüler nun das Gefühl hat, dass es um seine Persönlichkeit und seine Fähigkeiten geht. Statt Zeugnisnoten gibt es Lehrer- Eltern-Schüler-Gespräche, bei denen die Schüler ihre besten Arbeiten präsentieren. Das kann ein gelungener Aufsatz, ein tolles Bild, ein gedrehtes Interview etc. sein.
Kann ein Schüler dadurch seine eigenen Leistungen präsentieren und werden diese entsprechend gewürdigt und ernst genommen, so ist er auch offener für Kritik: In dem einen oder anderen Fach muss er sich vielleicht mehr anstrengen.
Ich glaube auch, dass Schule so wunderbar funktionieren kann. Wichtig wäre allerdings, alle Lehrer punkto Gesprächsführung gut auszubilden, um professionell arbeiten zu können.
Leider geht unser Schulsystem einen ganz anderen Weg.
Zusätzlich zu den Noten müssen die Schüler und Lehrer immer mehr Tests über sich ergehen lassen: Damit sollen wir endlich alle einen vorgegebenen Standard erreichen! Dass das der gleichzeitigen Forderung nach Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten widerspricht, scheint noch nicht durchgesickert zu sein.
Heute bekamen wir Besuch von einem Mann im Rollstuhl, der seinen Therapiehund mitbrachte. Eine Stunde lang durften unsere Schüler die unglaublichen Fähigkeiten dieses Hundes bewundern, Fragen stellen, den Hund streicheln und mit ihm spielen.
Unsere Schüler verhielten sich dabei besonders sanft, sozial und rücksichtsvoll. Keine Spur von Aggression war zu spüren, auch dann nicht, wenn sie länger warten mussten oder sich einer von ihnen vordrängen wollte oder öfter "drankam".
Dieses Verhalten ist meinem Kollegen und mir auch in anderen Situationen bekannt: Wenn wir nämlich auf einem Spielplatz auf kleine Kindergartenkinder treffen, die mit unseren Schülern spielen wollen, dann zeigen sie sich auch von dieser besonders lieben Seite.
Und genauso passiert es auch, wenn wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind: Unsere Schüler sind diejenigen, die ohne Aufforderung ihren Sitzplatz anbieten, wenn eine ältere Dame oder ein älterer Herr zusteigt.
In all diesen Situationen haben sie anscheinend nicht das Gefühl, etwas beweisen zu müssen, weil sie sich in keiner Weise bedroht fühlen.
Der Umgang mit Gleichaltrigen macht ihnen Angst, denn sie empfinden es als Gefahr, dass der andere etwas besser machen könnte.
Kleine Geschwister sind aber leider auch nicht immer die Lösung, da hier wiederum das Gefühl der Eifersucht aufkommen kann. Dieses Problem ist ja Dauerthema bei den Elterngesprächen von einem unserer Schüler.
Was folgt also aus diesen Beobachtungen:
Ich glaube, würden die oben beschriebenen Situationen zu etwas Alltäglichem werden, dann würde der soziale Effekt (unserer Schüler untereinander) wieder verloren gehen.
Besonders schade an dieser Erkenntnis finde ich, dass ich jeden einzelnen unserer Schüler zwar sehr gerne habe, aber bei manchen von ihnen nicht mehr daran glauben kann, dass sie jemals ein beständig positives Sozialverhalten zeigen werden.
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